Herzensgebet

Viele Menschen finden in der Kontemplation mit dem Herzensgebet eine Tradition, die ein bewährtes Erfahrungswissen mit einer zeitgemäßen Spiritualität kombiniert.

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Dieser mystische Weg gewinnt zunehmend an Bedeutung in dem spirituellen Aufbruch unserer Zeit und baut Brücken für eine interreligiöse und integrale Spiritualität, die tief in der christlichen Tradition verwurzelt ist.

Die alltagsorientierte spirituelle Praxis geschieht einzig und allein mit einem kurzen Satz oder einem Wort, das an den Atem gebunden die Wahrnehmung für das Dasein in der Gegenwart öffnet. Auf dem Weg des Herzens können Einsichten wachsen, die Klärungs-, Wandlungs- und Heilungsprozesse initiieren und voranbringen.

Wenn dein Herz wandert oder leidet, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart der Liebe.​

Einleitung

Mit dem Gebet des Herzens ist uns ein großer Schatz in die Hände gelegt. Es ist einfach, leicht zugänglich und eröffnet uns tiefste Einblicke in unser wahres Wesen. Diese Form des Betens kann uns eine Erfahrung schenken, die uns von Grund auf verwandelt und unser Dasein für die Gegenwart des Göttlichen öffnet. Wir können uns mit dem Unerlösten in uns versöhnen und gewinnen vollkommen neue Einsichten. Wir betrachten uns, unseren Nächsten und Gott aus einer neuen Perspektive und erspüren unsere Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung. Im Erkennen dieser Zusammenhänge senkt sich der Himmel auf die Erde und vereinigt sich in uns zu einem neuen Menschen, der dieses Neue in der Welt bezeugt. Das Herzensgebet ist ein Weg der Wandlung im Tiefsten und Innersten, eine wahrhaft umfassende metanoia

Das Herzensgebet in der Überlieferung

Das Gebet des Herzens oder auch Herzensgebet geht in seinem Ursprung auf die erste meditative Praxis der Christenheit zurück. Es ist also zunächst einmal ein christlicher, mantrischer Versenkungsweg. Ein Weg der Hingabe an das Geheimnis Gottes. Diese Hingabe umfasst und erfasst uns mit unseren ganzen Sinnen. Ganzhingabe, die in ihren Schritten leiblich, sinnlich und geistlich gelebt wird. Ein mystisches Gebet der Sammlung aller Ebenen unseres Menschseins. Dabei wird ein kurzer Satz oder ein kurzes Ein-Wort-Gebet unablässig wiederholt, wobei im Zentrum der Anrufung der Name Gottes steht. Die Anrufung des heiligen Namens gab dem Gebet auch die Bezeichnung «Namensgebet». Wenn die Anrufung des Namens «Jesu Christus» im Mittelpunkt steht, bezeichnen wir das Gebet auch als «Jesusgebet». Der Begriff «Gebet des Herzens»  oder «Herzensgebet» findet erst in der heutigen Zeit eine breitere Verwendung und Bedeutung. In diesem Text verwende ich beide Bezeichnungen.

Das Gebet des Herzens bereitet der kontemplativen und mystischen Erfahrung den Boden. Kontemplation meint das schauende und hineinhorchende Wahrnehmen der göttlichen Gegenwart. Dieses Erlauschen des einen Seins führt schrittweise das entbilderte und entleerte Bewusstsein in die Fülle des Schweigens. Es ist die Erfahrung des Stillewerdens des Herzens. Dabei erwacht langsam die Hesychia – die Ruhe des Herzens. Kontemplation meint das Hineintreten in diesen Raum des Schweigens. In seiner höchsten Stufe ist es die zu schauende Erfahrung des Einswerdens meines Seins mit dem göttlichen Sein. Anwesendsein und Einssein im zeitgleichen heiligen Raum, der in mir, um mich und durch mich ewig wirkt und mein Werden formt. (con – templum: con = zusammen, in eins; templum = umfriedeter Bezirk, Raum, Tempel)

Das Gebet im Herzen tragen

Herz bezeichnet in einem spirituellen Verständnis nicht nur den physischen Ort, sondern mit dem Herzen ist in erster Linie die Gesamtheit der menschlichen Person gemeint. Das Herz ist das zentrale Organ des menschlichen Seins, des innersten Menschen. Es ist das innerste und eigentliche Selbst. Es ist die Mitte des Bewusstseins und des Unbewusstseins, des Körpers, der Seele und des Geistes – die absolute Mitte. Das Herz ist die verborgene Geburtshöhle des neuen Menschen. Dieser neue Mensch wird nicht irgendwann in einem fernen Paradies geboren, er wird gekreuzigt und stirbt im gegenwärtigen Augenblick, richtet sich auf und aufersteht im Hier und Jetzt. Das Reich Gottes ist ein gegenwärtiges Reich.

Bei der wiederholten Anrufung des heiligen Namens versucht der Mensch in das Jetzt – in die Geburtsstätte hineinzutreten und diese Neuwerdung zu vollziehen. Der Weg und das Ziel, um Gott zu erinnern ist das Gebet des Herzens, welches in mir, in meiner Mitte, unaufhörlich in der Beziehung zu Gott steht. Das immerwährende Herzensgebet ist die unablässige innere Lebensausrichtung auf die Einheit – die göttliche Gegenwart. Diese Form des Betens ist dabei weit mehr als nur Gebet. Sie ist Lebenszustand, Lebensinhalt, Lebensgestaltung, Lebensschule und Lebensweg in einem. Die Wüstenväter benannten die Erfahrung dieser Stufe des Gebetes: «das Gebet des Geistes im Herzen». 

Das Gebet ist der Weg der Wiederherstellung der Einheit, die Überwindung des Leidens, die Verbindung mit der allumfassenden Schöpfung, die Erneuerung der ursprünglichen Ganzheit, ein Werden zu dem, was ich schon tief in mir bin. Die Vereinigung meines menschlichen Herzens mit dem göttlichen Herzen. Immerwährende Erinnerung an das Höchste und Heilige in mir.

Der Klang meines Herzens

Beim Herzensgebet wird ein Mantra gesprochen, gedacht, gesungen, geformt. Ein Mantra ist ein heiliges Wort. Ein Wort-Klang, der mich durchstrahlt und durchschwingt. Ein Resonanzraum, der mich heilt, den ich erlausche und dem ich antworte. Wenn ich auf eine Wasseroberfläche ein Mantra, z.B. das Wort Schalom singe und die dem Klang ausgesetzten Wassertropfen anschließend einfriere, entstehen wunderschöne kristalline Formen. Ein Klangwort kann also eine ordnende Kraft haben, die eine harmonikale Struktur in mir erschafft. Der japanische Wissenschaftler Masaru Emoto hat jahrelang mit der Erinnerungs- und Formungsfähigkeit des Wassers gearbeitet und uns wunderschöne und beeindruckende Fotografien in seinem Buch «Die Botschaft des Wassers» geschenkt. Die Vorstellung, dass wir zu über 70 % und unser Gehirn sogar zu über 90 % aus Wasser bestehen, müsste uns ermutigen, heilige, heilende Worte zu formen, zu tönen und zu denken. Diese Ausdrucksweise klärt, ordnet und formt unser innerstes Sein zu einer Gestalt, die in uns als Potential ruht und geradezu darauf wartet, herausgerufen zu werden. 

Beispiele für ein Gebet des Herzens können neben dem Namens- oder Jesusgebet «Schalom» (Frieden); «Maranatha» (Unser Herr kommt); «Kyrie Eleison» (Herr erbarme dich) oder  «A – O» (Alpha und Omega,  Anfang und Ende) sein.

Weitere Beispiele für Herzensgebete finden Sie hier.

Die Macht des Namens

Der Apostel Paulus sagt im Neuen Testament: «Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir.» (Galater 2,20) Die Macht des Namens spielt in der Herzensgebetstradition eine große Rolle. Dem Namen Christus, welcher der Titel für die Menschwerdung des göttlichen Seinsgeheimnisses ist, wird eine ungeheure Macht zugesprochen. Der Name führt direkt in die Einheit. «Ich und der Vater sind eins» (Johannes 10,30) sagt Jesus von sich als der Christus. Christus ist der von Gott gezeugte Sohn, der in Jesus von Nazareth wahre Gestalt angenommen hat. Christus ist sozusagen der Prototyp des erwachten Menschen, des neuen Adams, der in jedem von uns geboren werden möchte. Im Anrufen dieser kosmischen Christuskraft können wir uns mit Gott, dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist verbinden. Dadurch erfahren wir in uns eine schrittweise Umwandlung, die uns unserer eigentlichen Bestimmung immer näher bringt. Die Macht und Stärke des göttlichen Namens wird durch das unablässige Anrufen wahrhaftig und lebendig erfahren und weitergegeben.

Wenn wir den Namen eines Menschen anrufen, dann bedeutet dies, seine Person wirksam zu vergegenwärtigen. Wir erfüllen einen Namen mit Leben, sobald wir ihn anrufen. Jede Namensanrufung hinterlässt eine Spur im Kosmos. Das Jesusgebet hat durch die Jahrhundertlange und bis auf den heutigen Tag andauernde Anrufung ein sehr kräftiges morphogenetisches Energiefeld hinterlassen. Man könnte auch sagen: ein «Liebeskraftwerk». Wenn wir also den Namen Jesus Christus anrufen, schließen wir uns unmittelbar an dieses «Liebeskraftwerk» an und verbinden uns mit dieser heilenden Kraftquelle. Das Jesusgebet ist eine mächtige Waffe im Kampf gegen die Versuchungen des Ichs und ein Schutz gegen die Angriffe eines zerstörerisch wirkenden Egos. Es verbindet uns wie einen starken Magneten mit der Verkörperung unserer Vorstellung von Liebe, Schönheit, Wahrheit, Weisheit und Harmonie.

Die Namensanrufung verbindet uns mit dieser ersten und letzten Wirklichkeit, die sich als Christusbewusstsein zeitlos manifestiert. Wenn Christus im Johannesevangelium sagt: «Ich bin die Tür» oder «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben», dann ist es diese Wirklichkeit, an der wir teilhaben können. Es ist der Wahrheitsraum, in den wir nach einer langen Reise eintreten dürfen, um in das Haus unserer wahren Mutter und unseres wahren Vaters zu gelangen.

 

Mir geschehe, wie du verheißen

Maria spielt in der Geschichte des Herzensgebetes eine entscheidende Rolle. Maria verkörpert das Urbild für Hingabe und Empfänglichkeit und ist darin Urbild der Schönheit in der Schöpfung.  Das heilige Weibliche steht in archetypischer und spiritueller Sicht für den Mutterschoß, den wässrigen Grund der Taufe, die emotionalen Tiefen des Menschen, das menschlich Unbewusste und den Bauch von Jonas Walfisch. Als Mutter steht Maria für die Materie (Mutter heißt im Griechischen und Lateinischen mater und hat in vielen Sprachen die gleiche Bedeutung). Mutter Erde ist Bild für die Fruchtbarkeit und Erdhaftigkeit der gesamten Schöpfung. Sie ist ebenso das Symbol der reinen, unbefleckten Empfängnisfähigkeit. In uns, in jedem von uns, gibt es diesen Ort, der rein und klar und frei von aller Schuld und Bosheit oftmals im Verborgenen existiert. Ein Weg zu diesem weiblichen Kraftort in uns ist das Herzensgebet. Das Gebet der Hingabe – der Ganzhingabe an die Geburt des neuen Menschen in uns. Eine Geburt geschieht unkomplizierter und einfacher, wenn die Gebärende loslassen kann und sich ganz und gar dem Geburtsgeschehen hingibt. Maria verkörpert und symbolisiert das weibliche Angesicht Gottes. Sie ist als Fürsprecherin, Miterlöserin, Gottesgebärerin und Lehrmeisterin des Herzensgebetes im Bewusstsein des betenden Menschen präsent.

Die mystische Maria verkörpert die empfangende, bergende und gebärende Kraft, die den Christus, den Heiland, das Heile und Geheiligte in uns, empfängt und gebiert. Dieses geschieht durch ihre und unsere Bereitschaft, sich dieser Aufgabe ganz zu stellen, sich diesem Wunder zu öffnen und in dieses Geschehen mit ganzer Hingabe einzuwilligen. «Mir geschehe, wie du verheißen.» (Lukas 1,38) Unser nur um uns selbst kreisendes Wollen und Wünschen zu lassen, das ist es, was wir auf diesem Weg lernen können. Wir müssen ganz Jungfrau werden, das heißt, reine Empfangende sein, um Christus in uns lebendig werden zu lassen. Ich öffne mich und empfange diesen Samen, diese Frucht, und gebe ihr Zeit und Raum, um zu wachsen. Wenn die Zeit reif ist, wird dieses «reine Kind» in mir geboren. Die Jesus-Christus-Gott-Mensch-Geburt. In mir, aber auch durch mich.

Auch ich bin in der Weitergabe dieser Kraft für andere Maria, Miterlöserin der Schöpfung und aktiv wirkende Kraft des Schöpfers. In der katholischen und in der russisch orthodoxen Frömmigkeit hat die Einbeziehung der Marienkraft in den Glaubensweg eine lange Tradition. Wer die russischen Ikonen betrachtet oder Schriften und Gebete zur Marienverehrung liest, ahnt etwas von der Liebe und Kraft, mit der dieses weibliche Prinzip des Göttlichen verehrt wird. Wenn wir die den männlichen Charaktereigenschaften zugeordneten Kräfte betrachten, die diese Welt an den Rand des Abgrundes geführt haben, wird uns vielleicht einsichtig, dass es gerade eine Betonung der dem weiblichen zugeordneten Fähigkeiten bedarf, damit eine Wende und ein Ausgleich geschieht.

Haben Sie keine Angst heilig zu sein. Öffnen Sie sich nur der Liebe, die Ihnen angeboten wird. So werden Sie die Liebe in die Welt hineintragen. Sie werden Mutter Gottes für die Welt von heute sein.

Mein Name ist das ICH BIN

Gottes Name hat sich Mose im brennenden und nicht verbrennenden Dornbusch als «Ich bin das ICH BIN» oder «ICH BIN DA –  ICH BIN das Werdende – ICH BIN das immerwährende SEIN» offenbart. (2. Mose 3, 14) Die letztgültige Deutung dieser Offenbarung des Gottesnamens ist nicht eindeutig zu klären. Es gab und gibt immer wieder Versuche, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. In den meisten Interpretationen dieser Schlüsselstelle des Ersten Testamentes findet sich eine Übereinstimmung in dem Gedanken, dass dort Gott mit dem allumfassenden Sein identifiziert wird. Werdend und schon vollkommen daseiend. Ewig, vor aller Zeit, in aller Zeit und über alle Zeit hinaus. Form und formlos zugleich. Zeitfrei und raumfüllend. Diese ICH BIN-Wirklichkeit ist in dem Gottmenschen Jesus Christus offenbar geworden.

Im Johannesevangelium gibt es eine Reihe von ICH BIN-Worten, z.B. «ICH BIN das Licht der Welt, das euch erleuchtet» (12,46), «ICH BIN die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt» (11,25) oder «ICH BIN die Tür, durch die ihr selig werdet, wenn ihr durch mich hineingeht.» (10,9) Von Gregor vom Sinai, einem Mönch aus dem 13. Jahrhundert, der seine tiefen Erfahrungen mit dem Herzensgebet niedergeschrieben hat, stammt der Satz: «Werde, was du schon bist.» Dieses Werden zu dem, was in uns schon längst existiert und ruht, geschieht über einen Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung. Der Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung bezeichnet diesen auch als Individuationsprozess. Hier begegnet uns wieder das ICH BIN – die Entfaltung des höheren Selbst. Wenn wir erkennen, dass dieses Suchen nach dem Seinsgrund unseres Lebens eine Suche nach dem göttlichen Kern in uns ist, erkennen wir, dass unser kleines «Ich bin» in dem großen ICH BIN voll umfassend aufgehoben ist. Gleich einem Tropfen Wasser, der ungetrennt in das Meer zurückfällt und dennoch unvermischt, in seiner einzigartigen und kostbaren Gestalt bleibt. Damit hat die Anrufung des Namens eine tiefe Bedeutung für unsere Präsenz im gegenwärtigen Augenblick. Eine Möglichkeit der Bewusstseinstransformation hin zu einem Christus-Bewusstsein in uns.

Karlfried Graf von Dürckheim, der bedeutende spirituelle Autor und Gründervater des Zentrums für initianische Therapie in Todtmoos-Rütte, sprach häufig in einem Bild, um diese Transparenz für die immanente Transzendenz anschaulich zu machen. Wie kommt der «Karlfried» durch den «Dürckheim»? Gemeint ist mit dem Nachnamen «Dürckheim» das in der Welt verwurzelte «kleine Ich» mit seinen Prägungen, Begabungen, Projektionen, Wünschen, Besitztümern und Fehlhaltungen. Dürckheim sagt, dass die wesentlichste und vorrangigste Aufgabe des Menschseins darin besteht, zu seinem wahren Wesen und um im diesem Bild zu bleiben im Vornamen „Karlfried“ liegt, zu erwachen. «Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.» (Jesaja 43,1) In unserem Fall ist dieser Name «Klaus», das große ICH BIN. Wenn im Vollzug unseres Lebens «Klaus» (das ICH BIN) immer sichtbarer wird und der «Müller» (das kleine «Ich bin») einen immer hintergründigeren und unbedeutenderen Platz einnimmt, dann ist der eigentliche Sinn des Lebens erfüllt. Wie wird das wahre ICH BIN des Menschen sichtbar? Und wie kommt nun der Klaus durch den Müller? Im Herzensgebet öffnen wir uns der gegenwärtigen Wirklichkeit des ICH BIN und bezeugen etwas davon auf unsere ganz eigene Art und Weise in der Welt.

Das Gewahrsein im gegenwärtigen Augenblick

Das Herzensgebet möchte nicht als Beigabe, Technik oder als eine Methode verstanden sein, um zu einer möglichst schnellen Erleuchtung oder wohltätigen Entspannung zu gelangen. Das Herzensgebet ist eine Lebensweise und eine innere Grundhaltung, auf die ich mich immer wieder neu ausrichte. Ein wegloser Weg, der meinen gesamten Lebensvollzug in Frage stellt, ihn von Grund auf verwandelt und ihm eine neue Ausrichtung geben kann. Die unablässige Hinwendung zu Gott im kontemplativen Gebet kann mich direkt zu IHM führen. In der Gotteserinnerung werde ich des allumfassenden Seins im gegenwärtigen Augenblick gewahr. Ich erkenne Schritt für Schritt meine Gedanken, Gefühle, Empfindungen und das über mich Hinausweisende. Meine Erkenntnisse und Einsichten erscheinen in einem neuen Verständnis und aus einer neuen Perspektive. Ich übe mich im «Zulassen», dem Erkennen der wahren Natur meines Bewusstseins. Gott offenbart sich mir in jedem Augenblick als die eine ewige Liebe. Ich nehme jeden Augenblick als ein Geschenk des Lebens in seiner unendlichen Fülle wahr. Jedem «Jetzt» schenke und weihe ich meine Gebetszeit. Dieses Darbringen meiner Lebenszeit für den gegenwärtigen Gott verändert meine Wahrnehmung von Zeit und Raum. Die Sammlung auf den Augenblick kann mich und meine Wahrnehmung in ein neues Sein umformen. Das Eingestimmtsein auf die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes ist Kraftort und Reinigungsquell, Erfüllung und Sinn. Diese heilsame Ausrichtung kann mich befähigen, meine Wunden wahrzunehmen und anzunehmen.

Alles, was geschieht, geschieht aus Deinem Willen. Dein Wille geschehe. In diesem bedingungslosen «Ja» Gottes zu mir und meinem freiwilligen «Ja» zu dieser Kraft, geschieht ein völlig neues Erkennen dessen, was geschieht, mir widerfährt und mich sonst leicht aus der Bahn wirft. In diesem Sakrament des Augenblicks verschwindet alles Bitten und Zweifeln. Ich gebe mich einfach dem Geschehen hin. Aufmerksam, vollkommen vertrauend, mit großer Geduld und aufrichtiger Hingabe. Wem dieses geschenkt wird, der bekommt eine Ahnung von der puritas cordis, der reinen Herzensschau, welche frei von Vorurteilen und Wertungen ist. Dieser Betende entwickelt die Fähigkeit der Herzenserkenntnis (kardiognosis) und ist im Geist der Unterscheidung (diakrisis) geübt. Das sich offenbarende reine und nüchterne Gewahrsein(nepsis) nimmt die Wirklichkeit, so wie sie ist. In dem Buch von Gitta Mallazs «Die Antwort der Engel» findet sich folgendes Zitat: «Es gibt keinen heiligen Augenblick, denn jeder Augenblick ist heilig.»

In der Heiligkeit des Alltäglichen findet die Erleuchtung statt – mitten im Leben. Das WORT wurde Fleisch (ganz und gar körperlich) und möchte sich darin selbst erkennen. Die Kontaktstelle zu Gott ist im Hier und Jetzt. Dieses übt das Gebet immer wieder neu ein. Oder um mit Joseph Beuys zu sprechen: «Das Mysterium findet tatsächlich auf dem Hauptbahnhof statt.»

Das Herzensgebet trägt über die letzte Schwelle

Als Mahatma Gandhi am 30. Januar 1948 von den drei Kugeln seines Mörders tödlich getroffen wird, stirbt er mit dem rama namjapa auf den Lippen, das heißt mit dem Gottesnamen ram. (zitiert nach E. Jungclaussen) Gandhi hat den Vers «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden» aus dem 90. Psalm vollkommen verwirklicht. Es war keinesfalls eine spontane Eingebung, der er instinktiv folgte. Seine Amme hatte ihm als Kind dieses Herzenswort-Mantra gelehrt, damit er in Gefahr und Angst eine zuverlässige Verbindung zu einer heilsamen Energiequelle aufbauen kann. Im Verlaufe seines Lebens hat er sein Gebet des Herzens unzählige Male angewendet und erprobt.

In der Nähe des Todes den Namen Jesu auszusprechen und mit dem Jesus-Gebet auf den Lippen zu sterben, ist ein alter Brauch, jedenfalls in der altkirchlichen sowie in der katholischen Überlieferung. In der Stunde unseres Todes zeigt sich am deutlichsten, wie wir gelebt haben. In ihr erhalten wir die letzte irdische Möglichkeit, uns bewusst, gelöst und freiwillig in das Licht zu begeben. Im Gebet des Herzens üben wir auf eine sehr gründliche Weise ein Leben lang dieses Loslassen und Hingeben. Das Sterben des Ich stellt den physischen Tod in ein anderes Licht. Der Weg des Herzensgebetes ist ein Stück Aufarbeitung dieser Todesangst. Daher ist die Transformation oder das Sterben des Ichs das Grundthema vieler spiritueller Wege im Osten und im Westen. «Wer stirbt, bevor er stirbt, stirbt nicht, wenn er stirbt.» (Abraham a Santa Clara) Der Weg ins wahre Leben führt mitten durch den Tod hindurch. Meine erste Lehrmeisterin des Herzensgebetes Brigitta Adelheid Müller beantwortete meine Frage nach Reinkarnation/Wiedergeburt mit dem Satz: «Es gibt keine Wiedergeburt, jeder Augenblick ist einmalig, jede Gestalt ist einmalig, alles ist einmalig – EWIGE ENTFALTUNG» und Christus sagt dazu in der Offenbarung des Johannes: «Siehe, ich mache alles neu.» Gott wiederholt sich nicht. Niemals. Die Praxis des immerwährenden Betens kann eine wunderbare Einübung in unser Leben und unser Sterben sein. Auch in den anderen großen Weisheitstraditionen gibt es vielfältige Rituale und Zugänge, die eine ähnliche Perspektive auf den Tod und das Sterben einüben.

In der Begleitung Sterbender kann sich ein Raum für die Wirkung des heilsamen und mitfühlenden Herzensgebetes öffnen. Während meiner Arbeit mit Sterbenden im RICAM-Hospiz in Berlin, war mir mein still geformtes Herzensgebet sehr oft eine wirkliche Stärkung und Bereicherung. Für Menschen auf ihrem letzten Weg kann sich die transformierende, berührende und sanfte Kraft dieses Betens besonders entfalten.

Die Ursprünge des Jesus-Gebetes

Die Gebetsform und die Art und Weise dieser mehr als anderthalb Jahrtausende währenden Entwicklung des Herzensgebetes geht im Wesentlichen auf das Zweite Testament zurück. Es sind zum einen die in den Heilungsgeschichten an Jesus Christus gerichteten Stoßgebete und Bitten um Hilfe (Matthäus 15,22; 20,31; Markus 10,47; Lukas 17,13; 18,13 und 38), die in der Folge zum Heil (zur Ganzwerdung) geführt haben und zum anderen die Aufforderung, unablässig zu beten. (Lukas 18,1; Epheser 6,18 und 1. Thessaloniker 5,17) Auch im Ersten Testament finden sich unzählige Hinweise auf die Bedeutung und Kraft der Anrufung des heiligen Namens. Ein Beispiel möge diese Fülle verdeutlichen: «Wer den Namen des Herrn anruft, wird errettet werden.» (Joel 3,5)

Die ersten sogenannten Wüstenväter haben sich, wie Jesus, in die Stille und Leere der Wüste zurückgezogen und das in der Bibel Beschriebene am eigenen Leibe ausprobiert. Sie haben sich mit Leib und Seele Christus und Gott anvertraut und erfüllten ihre Alltagswirklichkeit von Augenblick zu Augenblick mit der Kraft und Atmosphäre des immerwährenden Gebetes. Das Jesus-Gebet in seiner ursprünglichen und vermutlich seit dem 6. Jahrhundert gebräuchlichsten Formel lautet: «Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.»

Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner

Diese Gebetsworte sind die bevorzugte, weitverbreitete und gerade in der orthodoxen Frömmigkeit über Jahrhunderte praktizierte Hauptformel des Herzensgebetes. In ihrer traditionellen Formulierung stoßen diese Worte heutzutage manchmal auf Ablehnung und werden oftmals missverständlich interpretiert. Darum an dieser Stelle eine kurze Erläuterung dieser Gebetsworte.

Im Jesusgebet wird Christus mit HERR bezeichnet. Jesus Christus ist der HERR – der  Gottessohn, die Mensch gewordene Kraft Gottes. Als der Jünger Thomas seine Hand in die Wunde des Auferstandenen legt, erkennt er, dass Jesu der Christus ist. Er redet ihn mit «Mein HERR und mein Gott» (Johannes 20,28) an. Damit bestätigt er die eigene Aussage von Jesus: «Ich und der Vater sind eins.» (Johannes 17,21) Als Name wurde der Begriff HERR im Ersten Testament für JHWE gesetzt. Der sich Mose im brennenden Dornenbusch offenbarende Name Gottes lautet im hebräischen JHWE – welches vielfach mit: «Ich bin das ICH BIN» oder «Ich werde sein, der ich sein werde» übersetzt wird. ICH BIN das ewig Gegenwärtige, das ewig Seiende. JHWE ist eine Umschreibung für das Allumfassende, Unbegreifliche und Ganze.

Bis in die ersten Jahrzehnte nach der babylonischen Verbannung wurde Gott mit diesem Namen auch angerufen. Bei der Aufarbeitung der Frage, was zu der Zerstörung Jerusalems geführt hat, kam das israelische Volk zu der Antwort: «Wir haben unser Bundesversprechen nicht eingehalten, wir sind untreu gewesen. Das darf nie wieder geschehen.» Die Verbannung nach Babylon und die Zerstörung Jerusalems wurde in Zusammenhang mit dem Missachten des Gebotes: «Du sollst den Namen deines Gottes nicht missbrauchen» gebracht. In dem Erkennen dieses Zusammenhanges, kam das israelische Volk zu dem Schluss: «Wenn wir den Namen überhaupt nicht mehr aussprechen, werden wir ihn auch nicht missbrauchen.» So wurde es heiliges Gesetz, den Namen JHWE nicht mehr auszusprechen. Stattdessen sagte man adonaj – Herr oder ha-schem – der Name oder elohim – Gott oder ha-schamajim – der Himmel. In vielen deutschen Bibelausgaben wird der Name JHWE mit HERR wiedergegeben, damit der Leser erkennen kann; hier steht im Urtext JHWE. Entsprechend diesem Brauch hat die griechische Übersetzung, die LXX, adonaj mit kyrios wiedergegeben. Wenn wir Christus als den Sohn Gottes anrufen, rufen wir gleichzeitig Gott, seinen Vater an.

Das Wort «erbarmen» verbindet sich vielleicht bei uns mehr mit erbärmlich und ist von vielen Menschen mit negativen Erinnerungen und Assoziationen besetzt. In seinem Wortstamm kommt das Wort «erbarmen» aus dem hebräischen Wort rächäm und bezeichnet in seiner Wurzelbedeutung «Mutterschoss» oder «Sitz des Mitgefühls». Es ist der Mutterleib, in dem ein Mensch heranwächst und in dem er geborgen ist. In seiner Deutungsfülle steht es dem Umfangenden, Wärmenden und Gebärenden sehr nahe. Gott umfängt uns mit diesem mütterlichen, lebensspendenden und barmherzigen Sein und erweckt in uns die Kraft zu unserem neuen Sein. Der Plural rachamim ist das Gefühl, welches eine Mutter überfällt, wenn sie ihr neugeborenes Kind schreien hört, und das sie treibt, sich seiner zu erbarmen. Unser inneres Interesse am Gebet – das Feuer, das uns bewegt zu beten und Gott zu erinnern, möge in uns niemals erlöschen und uns das Wunder und die Fülle des Lebens sichtbar machen. Für den hebräischen Begriff rächäm erklingt in der lateinischen Übersetzung das Wort miserikordia und so wir können das Jesusgebet im Sinne von: «Gib mir dein heiliges Herz; Christus, schenk mir dein Vertrauen, umfange mich, gebäre in mir meine Nähe zu Gott» interpretieren und sprechen. Dieses alles erbitten wir in dem Satz: «Erbarme dich.»

Mit dem Wort «meiner» stelle ich mein Menschsein in den Mittelpunkt dieser Anrufung. Ich bin gemeint, ich bin das Kind und der ganze Erbe. So tief verstehe ich meine Gottesebenbildlichkeit. Ich bin würdig, erbarmungswürdig und auserkoren, diese Kindschaft zu übernehmen. Ich bin das Lieblingskind des Vaters und der Mutter. Ich bin gerufen, zu dem zu werden, was ICH schon längst BIN. Jede und Jeder ist dieses und in meinem Gebet kann ich mir immer wieder diese Zusage in Erinnerung rufen. Dabei möchte sich mein kleines «Ich bin» in das große ICH BIN hineinentfalten. «Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein.» (Johannes 17, 21) Es ist Seine, ganz hingebende Wirklichkeit an mich – es ist meine, ganz hingebende Wirklichkeit an Gott. Den Zugang zu meinem verborgenen göttlichen Sein finde ich in mir selbst. Gottes Wille geschieht an mir, in mir und durch mich.

Der Weg des Herzensgebetes

Die Geschichte des Herzensgebetes lässt sich in drei große Blütezeiten unterteilen. In jeder dieser Phasen gab es bedeutende LehrerInnen und Meister dieses Gebetsweges und aus jeder Zeit gibt es einen großen Schatz an überliefertem Erfahrungswissen, welches den Menschen, die heute diesen Weg gehen möchten, eine Orientierung und Hilfe geben kann.

1. Phase In den urchristlichen Gemeinden gab es Menschen, die sich wie Christus in die Wüste zurückzogen, um sich ganz dem Gebet zu widmen. In der Ägyptischen Wüste und am Sinai entstanden in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten eine Vielzahl von Einsiedeleien und Klöstern. Zunächst sind es Psalmverse und kurze Stoßgebete oder auch Bitten um Hilfe und Vergebung. Allmählich gewinnt der Name Jesu in diesen Gebeten eine beherrschende Stellung. Im Laufe der ersten Jahrhunderte entwickelt sich das Gebet immer mehr in die uns vertraute Wortwahl: «Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.»

2.  Phase Etwa vom 12. Jahrhundert an beginnt auf und um den heiligen Berg Athos in Griechenland die zweite große Blütezeit des Jesus-Gebetes. In dieser orthodoxen Mönchsrepublik entstanden zwanzig Großklöster und zahlreiche Einsiedeleien, die bis in die heutige Zeit wirken. Die mit dieser Gebetsform verbundene Bewegung erhält schon sehr früh den Namen «Hesychasmus». Es ist eine geistliche Strömung, die vor allem in dieser zweiten Phase des Jesus-Gebetes eine große Bedeutung gewinnt. Der Hesychasmus ist eine mystische Spiritualität, die wesentlich auf die Schau des göttlichen Geheimnisses ausgerichtet ist. Die Erfüllung der Gebote und eine asketische Lebensführung sind Wegschritte dieser Ausrichtung. Die Anrufung des Namens «Jesus Christus» rückt nun ganz in den Mittelpunkt und wird durch das stille Sitzen und die Atemkontrolle ergänzt.

3. Phase Das Jesus-Gebet gelangte schon im 12. Jahrhundert vom Sinai über den Athos nach Russland und erhielt dort im 16. und 18. Jahrhundert starke Impulse, welches zu einer großen Blütezeit am Ende des 18. Jahrhunderts führte. Hier findet die dritte große Epoche des Herzensgebetes einen fruchtbaren Nährboden. Ein sehr umfangreiches Sammelwerk, die «Philokalia», erschien 1782 in Griechenland, wurde kurze Zeit später ins Slawische und andere europäische Sprachen übersetzt und hatte einen großen Einfluss auf die Verbreitung des Herzensgebetes in Russland. Die «Philokalia», in der Übersetzung die «Tugendliebe», ist eine Sammlung von etwa dreißig Schriftstellern des christlichen Ostens aus der Zeit vom   3. – 15. Jahrhundert. Alle diese Texte beziehen sich auf die eine oder andere Weise auf die Übung des Gebetes, seine Methodik, die damit verbundene Lebensführung und die mystischen Erfahrungen, die mit dem Beten verbunden sind. Eine erste deutsche fünfbändige Gesamtausgabe dieses Erfahrungswissens erschien erst 2004 im Verlag «Der christliche Osten» und inspiriert damit wesentlich die heutige Praxis des Herzensgebetes. Ende des 19. Jahrhunderts erschien in der russischen Stadt Kasan ein Buch mit dem Titel «Die aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers». In Deutschland erschien dieser Titel erstmalig 1925. In zahlreiche europäische und außereuropäische Sprachen übersetzt, hat dieses Buch inzwischen die Welt erobert. Es handelt sich bei diesem Buch um einen lebendigen, anschaulichen  und meist spannend zu lesenden Erfahrungsbericht über die verwandelnde Kraft des Jesus-Gebetes.

Heutzutage bietet das Herzensgebet vielen, nach ihren christlichen Wurzeln suchenden Menschen einen über viele Jahrhunderte erprobten spirituellen Lebensweg an. In der Literatur gibt es inzwischen auch eine Fülle an deutschsprachigen Büchern über das Herzensgebet – in einer heute verständlichen und praxisbezogenen Sprache und Methodik. Die Zahl der HerzensgebetslehrerInnen, die auf eine langjährige gründliche Erfahrung zurückblicken können, nimmt stetig zu. In vielen Tagungshäusern und an anderen Orten finden sich inzwischen zahlreiche Angebote zum Herzensgebet. Der Einzug vieler östlicher spiritueller Wege und Methoden und die aktuellen Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der neueren Psychologie, haben die gegenwärtige Schulung im Herzensgebet derartig befruchtet, dass wir heute von einer Renaissance des Herzensgebetes sprechen können. Die ökumenische Offenheit und Freiheit des Herzensgebetes bietet durch seine Einfachheit und Tiefe eine zeitgemäße erfahrungsorientierte Spiritualität an, die bereits von vielen Menschen, die aus unterschiedlichen christlichen Prägungen und Kirchen kommen, praktiziert wird.

Werde, was du schon bist

Gregor vom Sinai, gilt als einer der bedeutendsten Wüstenväter. Er ist eng mit der Geschichte des Herzensgebetes verbunden und hinterließ eine Fülle von Weisheiten, die aus seiner Erfahrung mit dem Gebet erwachsen sind. Von ihm stammt nachfolgendes Zitat:

Werde, was du schon bist.
Suche Ihn, der bereits dein ist.
Höre auf Ihn, der nimmer aufhört zu dir zu sprechen.
Gehöre Ihm, der dich bereits Sein eigen nennt.

Der Weg und das Ziel des Herzensgebetes ist die Vereinigung mit dem Göttlichen – dem Unaussprechlichen im gegenwärtigen Augenblick. Dafür wird ein Weg beschritten, der den Zugang zum wahren Wesenskern eröffnen kann. Es ist ein «Werden zu dem, was ich schon längst bin.» Dieses vollzieht sich im Gebet des Herzens durch eine stufenweise Entwicklung des Bewusstseins. Das Modell des klassischen Dreischritts, die Reinigung, die Erleuchtung und die Einung ist immer wieder in den verschiedensten Traditionen und Ausdrucksformen beschrieben worden. In anderen Worten ist es der Prozess der Klärung, Wandlung und Heilung. Das nachfolgend beschriebene dreistufige Wegmodell ist nur eine mögliche Betrachtungsweise des individuell unterschiedlich ablaufenden Prozesses der Bewusstseinstransformation. Das Bewusstsein erinnert sich im Verlauf dieses Prozesses an seine Ganzheit.

1. Schritt Die via purgativa oder auch Weg der Reinigung, der Läuterung des Ich´s, der Klärung und der Aufarbeitung dient zunächst der Selbsterkenntnis. Es ist ein Leer- und Ledigwerden von Projektionen, Urteilen, Ansichten, Sorgen und Zwecken. Es ist ein Innehalten, ein Sich öffnen und Vorbereiten, ein Suchen und Bereitwerden für Neues. Eine Einübung im Loslassen und Annehmen, was ist. In dem Prozess der Klärung und Läuterung der Schattenseite meines Lebens geschieht eine zunehmende und oftmals recht schmerzhafte Sensibilisierung und Erlösung alter Wunden und Muster. Die freiwillige Bereitschaft, das zu erleiden, was das Leben mir zu erleiden auferlegt hat, ist eine notwendige Voraussetzung, die meine Entwicklung voranbringt. Im stillen Gebet setze ich mich meinen unverhüllten, nackten und oftmals deprimierenden Lebenswahrheiten aus und halte sie dem verwandelnden Feuer der allumfassenden Liebe hin.

2. Schritt Die via illuminativa gewährt zunehmend Einblicke in die spirituellen Zusammenhänge meines Menschseins und öffnet mich Stück für Stück für die Mysterien und Erkenntnisse des Kosmos und des einen Seins. Die Erleuchtung wird auch als transformatio bezeichnet. Es findet eine wirkliche und nachhaltige Bewusstseinsveränderung statt. Oft wird dieses auch als Geburt des neuen Menschen, des Christus in uns und als ein Absterben des alten Menschen beschrieben. Wichtig zu erwähnen ist, dass dieses Erkennen immer als ein Geschenk der Gnade, also nicht machbar oder planbar, empfunden wird. Es ist ein gleichzeitiger Vorgang des Erkennens und des Erkanntwerdens – des Gebens und des Empfangens. In dieser Phase der geistlichen Reifung ist eine gründliche Überprüfung und Begleitung der Fortschritte und Einsichten hilfreich. Anderenfalls sind die unreinen und noch nicht geklärten Bewusstseinsanteile der Boden für eine inflationäre Neubelebung des Egos. Dieses in Licht gehüllte Ego ist raffiniert und geschickt in seinen Versuchen, die Oberhand wiederzugewinnen.

3. Schritt Die höchste Stufe des Herzensgebetes ist das immerwährende Herzensgebet. Es wird auch als das «Gebet des Geistes im Herzen» bezeichnet. In der christlichen Mystik wurde dafür der Begriff unio mystica, die Einung der Seele mit Gott, gewählt. Man kann sie auch als Vermählung oder heilige Hochzeit umschreiben. Nachdem der betende Mensch die Reinigung und die Erleuchtung durchschritten hat, erfährt oder erleidet sie/er ein solches bewusstes Innewerden (Einwohnen) Gottes, das mit Worten nicht mehr adäquat mitzuteilen ist. Es ist die wache und bewusste Erfahrung des Einsseins mit allem, was ist. Dieser Prozess wird in manchen Traditionen auch als via unitiva  – Weg der Einung beschrieben.

Vier praktische  Grundregeln

1. Frage nicht, behaupte
2. Nimm es an
3. Bleib dabei
4. Mach was draus

Eine hilfreiche innere Haltung bei der Anwendung des Herzensgebetes ist: «Fang einfach an! Um gehen zu lernen, muss man einen ersten Schritt machen. Um schwimmen zu lernen, muss man sich ins Wasser stürzen.» Das Herzensgebet ist von seiner Ausführung her in jedem Augenblick anwendbar. Dadurch hat es sich in dieser hektischen, ablenkungsreichen und von Zeitmangel geprägten Zeit als besonders wirkungsvoll und von jedem Menschen ausführbar bewährt. Es ist unabhängig von Alter, Gesundheitszustand, intellektuellem Grad und unabhängig von Ort und Zeit. Es ist für den Anfänger/die Anfängerin genauso geeignet wie für Fortgeschrittene. Eine vierfache Grundregel, die ich bei der Arbeit mit dem improvisierten Spiel gelernt habe und die ich gut auf das Einüben meines persönlichen Herzensgebetes übertragen kann, lautet:

1. Frage nicht, behaupte!
Das ist mein klares «Ja» zu diesem Weg, eine immer wieder neuerliche Überprüfung meiner Motivation. Mein «Ja» ist die positive Grundgestimmtheit und die Atmosphäre, die ein Zulassen dessen, was geschieht, erlaubt. Es hat ein wenig von dem kindlichen Vertrauen, das ich habe, wenn ich mir der Liebe meiner Eltern gewiss bin. Ich entscheide mich jetzt einfach mal und probiere es aus. Dieses kann nur durch eine Klärung und Klarheit meiner Absicht geschehen.

2. Nimm es an!
Ich lasse mich ganz darauf ein, was mir im Gebet widerfährt. Ich richte es ein, dem Herzensweg eine Chance in meinem Leben zu geben. Ich nehme den angebotenen Ball an. Ich fange ihn mit beiden Händen auf. Ich öffne mich und zeige meine Bereitschaft, mitzumachen. Dieses ist eine bewusste und freie Entscheidung. Ich schenke Gott täglich etwas von meiner Lebenszeit und öffne mich ganz den Erfahrungen, die mir dann begegnen.

3. Bleib dabei!
«Zweige, die oft umgesetzt werden, treiben keine Wurzeln.» Diese Warnung des Wüstenheiligen Gregor vom Sinai beschreibt ein Einüben in eine gewisse Form der Disziplin und Beständigkeit, die mir durch das Dranbleiben eine Tiefe und Verwurzelung ermöglicht. Ich benötige diese Treue, um dem Geheimnis meines Seins auf die Spur zu kommen. Diese bezieht sich vorrangig auf die Gebetsformel. Die genaue Wortfolge des Gebetes, die ich verwende, kann wohl von Zeit zu Zeit verändert werden, doch sollte dieses nicht zu häufig geschehen. Ich möchte dazu ermutigen, am Beginn des Weges dem einmal begonnenen Gebet treu zu bleiben und mit diesem Wort-Klang erste Erfahrungen zu machen. Dazu benötige ich Geduld, Geduld und nochmals Geduld und die große Kunst der kleinen Schritte.

4. Mach was draus!
Die gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten können uns von Grund auf verändern und wandeln. Bei manchen Menschen anfangs vielleicht unmerklich und sanft, bei anderen wiederum radikal und deutlich spürbar. Der Exerzitienmeister und Jesuit Franz Jalics, der durch seine kontemplativen Exerzitien in Deutschland bekannt wurde, beschreibt die sicheren Anzeichen, die uns den rechten Weg weisen:
«Es gibt aber sichere Zeichen, dass du auf dem richtigen Weg voranschreitest. Das kannst du erst nach der Meditation, nicht in der Meditation spüren. Wenn du nach geraumer Zeit kontemplativen Gebetes merkst, dass du, ohne dich zu bemühen, die Menschen ein bisschen mehr liebst, ihnen gegenüber mehr Geduld empfindest, wenn du merkst, dass dein Lebensgefühl ein bisschen positiver geworden ist, deine Toleranzgrenze in schwierigen Situationen sich geweitet hat, und wenn du merkst, dass du dich selbst mehr so nehmen kannst, wie du bist, ja, dann geht dein kontemplatives Gebet in die richtige Richtung.»

Am ehesten kann ich  die Fortschritte und Veränderungen meiner Gebetspraxis  in meinem alltäglichen und vertrauten Umfeld erspüren und mein Alltagserleben eignet sich besonders, um feine und wesentliche Veränderungen meines Bewusstseins wahrzunehmen. Gerade dort sollte alle Erfahrung auf dem Prüfstand stehen. Dorthinein kann ich das neu Erlernte integrieren. Der Alltag beleibt der vornehmlichste  Gradmesser für meine spirituelle Entwicklung. In ihm zeigt sich meine neu dazu gewonnene Lebenstiefe und Lebensintensität und Fähigkeit zu Akzeptanz, Wohlwollen und Liebe.

Das Gebet des Herzens im Alltag

Kallistos Ware, ein englischer, orthodoxer Bischof unserer Tage und Lehrmeister des Herzensgebetes, hat zwei Weisen unterschieden, in denen ich das Gebet anwenden kann: die «freie» und die «formelle» Weise. Mit dem freien Gebrauch ist gemeint, dass ich das Gebet im Laufe des Tages spreche, während ich mit gewohnten Tätigkeiten beschäftigt bin. Ich kann es einmal oder mehrmals in den verschiedensten Situationen über den Tag verteilt sprechen, in den Momenten, in denen der Kopf frei ist. Ich kann es beim Abwaschen, beim Warten auf den Bus, beim Stau im Straßenverkehr, bei schwierigen Gesprächen, beim Einschlafen, beim Spazieren gehen oder bei einfachen Arbeiten usw. sprechen. Der Wert des Gebetes liegt in seiner Einfachheit. Das «freie» Sprechen des Herzensgebetes wird durch die «formelle» Übung ergänzt. Es herrschen hierbei keine strengen Regeln.

Ich suche mir einen möglichst ruhigen Ort in meiner Wohnung, an der immer gleichen Stelle und nehme mir eine regelmäßige feste Zeit vor, um das Gebet zu sprechen. Dieses kann z.B. einmal am Tag fünf Minuten sein. Wichtig ist dabei die Regelmäßigkeit. Lieber eine kurze Zeit über einen längeren Zeitraum, als eine Überlastung und ein nachfolgendes gänzliches Lassen des Gebetes. Das Gebet kann auf dem Sitzbänkchen, auf einem Sitzkissen oder auf einem Stuhl verrichtet werden. Es gibt dafür keine festen Vorgaben. Vieles wird sich im Laufe des Vollzuges ergeben und individuell beantwortet werden müssen. Die Körperhaltung und die Atmung sollten ruhig und entspannt sein. Das Wort an den Atem zu binden, hat sich als eine natürliche und vertiefende Weise des Betens herausgestellt, z.B. könnte man bei der klassischen Formel beim Einatmen «Herr Jesus Christus» und beim Ausatmen «erbarme dich meiner» sprechen.

Eine tägliche geistliche Lesung wirkt fördernd und unterstützend auf dem Weg des Herzens. Dies kann durch Lektüre der Bibel, Wegerfahrungen anderer Menschen, durch spirituelle Geschichten und Anregungen aus den Weisheitstraditionen o.ä. geschehen. Ein von mir selbst bestimmtes Ritual oder eine regelmäßige Liturgie (Gebetsablaufform) wirken sich ebenfalls auf das geduldige Integrieren dieses Weges in mein Leben positiv aus, z.B. 3 x Klangschale, Verbeugung, kurzes Gebet, 15 – 30 min. Sitzen mit dem Gebet des Herzens, 1 x Glocke, Segen und Verbeugung. Dabei sollte ich offen und experimentierfreudig sein und die mir genehme Form und Zeitspanne herausfinden.

Die Gebetsschnur

Das Beten unter Zuhilfenahme einer Gebetsschnur kann eine große Hilfe sein, um die Gedanken zu sammeln und zu zentrieren. In der Tradition des Herzensgebetes heißt diese Gebetsschnur Komboskini oder Tschotki. Sie ist eine geflochtene Knotenschnur, an der das Jesusgebet verrichtet wird. Kunstvoll werden die Schnüre kreuzweise miteinander in eine speziellen Technik verknotet. Es heißt, dass die kreuzweise Verknüpfung der Schnüre verhindert, dass der Teufel diese Knoten wieder lösen kann.  Üblicherweise hat eine Komboskini 100 Knoten, es gibt aber auch Formen mit 25, 30, 33 oder 500 Knoten. Die geschlossene Schnur steht als Zeichen für die Ewigkeit und das nie endende monastische Gebet. Den Komboskini erhalten die Mönche und Nonnen in der Ostkirche bei der Profess (Ordensgelübde, Bekenntnis). Die mit sich getragene Gebetsschnur erinnert an das Wort des Apostels Paulus: «Betet ohne Unterlass!» (1. Thessalonicher 5,17) Dieser Hinweis gilt nicht nur Mönchen und Nonnen, sondern für alle Christen. Wir könnten auch von einem «spirituellen Herzschrittmacher» sprechen.

Die Knotenschnur wird nicht verwendet, um die Gebete zu zählen, sondern als Hilfe zur Konzentration und für einen gleichmäßigen Rhythmus.  Das Gebet kann auch mit einer Perlenkette (japa mala) gebetet werden. In dem katholischen Rosenkranzgebet und in den östlichen Traditionen begegnet uns ebenfalls diese Gebetsweise. Hierbei werden Holzperlen oder andere Perlen verwendet. Die sich wiederholende, monotone Rezitation des Herzensgebetes hat eine ähnliche Wirkung wie das monotone und rhythmische Gleiten der Finger über die Knoten oder Perlen. Jeweils ein Knoten oder eine Perle ist ein Gebet und verstärkt die meditative Versenkung. Mein Herzensgebetslehrer sagt, dass jedes Gebet eine Zelle des Körpers erleuchtet. Da gibt es einiges zu tun – und er sagt des Weiteren: «Man wird bescheidener.» Alle Tiefenschichten der Person werden in dieses Gebet mit eingebunden und in die Dankbarkeit, Demut und Reinheit des Herzens geführt.  

Wegbegleitung

Immer wieder stellt sich die Frage, ob ich einen Lehrmeister oder eine Lehrerin für diesen Weg benötige. In der Tradition des Herzensgebetes sind es oftmals die Wüstenväter und Wüstenmütter oder die Starzen (Starez=Alter) gewesen, die von Herz zu Herz und Mund zu Mund die eigenen Erfahrungen weitergegeben haben. Sie übten auf viele Menschen eine große Faszination aus und waren ein leuchtendes Vorbild für eine Nachfolge Christi. Sie begleiteten und heilten viele Menschen und waren begehrte Seelsorger und Ratgeber. Heute bezeichnen wir geistlich erfahrene Menschen als spirituelle Lehrer/Lehrerin oder als Wegbegleiter/Wegbegleiterin. Wir alle sind gemeinsam auf einem Weg.

Ein Kundiger des Weges oder eine «Bergführerin» können eine wichtige Hilfe bei auftauchenden Fragen sein, die mit der Praxis zusammenhängen oder in schwierigen Situationen, die mir Angst machen und Zweifel verursachen oder wenn ich den Boden verliere und unmerklich  „abhebe“ vor lauter „Heiligkeit“.  Auch die richtige Einschätzung der «Gnadengaben», die manchem auf dem Weg zufallen, benötigt einen erfahrenen Wegbegleiter. Spirituelle Krisen sind begleitende Erscheinungen auf dem Weg und bedürfen einer weisen und verantwortungsbewussten Begleitung. Eine Wegbegleitung wird jedem Suchenden, der ernsthaft diesen Weg gehen möchte, möglicherweise über «den Weg laufen». Manch eine/r ist diesen Weg zum Gipfel schon ein Stück länger gegangen und hat Erfahrungen gesammelt, die uns vielleicht hilfreich erscheinen und uns auf diesem Weg ein Stück weiter bringen können. Für die Suchende oder den Suchenden kann es sehr hilfreich sein und der inneren Entwicklung förderlich, sich einer erfahrenen Wegbegleiterin oder einem gereiften Wegbegleiter anzuvertrauen. Ich habe damit gute Erfahrungen gemacht und schätze die persönliche Begleitung sehr.

Wenn dieses nicht möglich ist und ich niemanden finde oder ich diesen Weg alleine gehen möchte, kann das auch durch die Anrufung und Verbindung mit dem inneren Meister Christus selbst und das begleitende Studium der heiligen Schrift oder der Überlieferungen zum Herzensgebet geschehen.

Die treue Übung des Gebetes klärt, wandelt und fördert meinen Weg der Ganzwerdung. Es bleibt dabei ein Weg, der unendlich viel Geduld, Hingabe und Wahrhaftigkeit erfordert, um das Unerlöste in mir wahrzunehmen, zu wandeln und zu integrieren. Auch der Austausch und die Gemeinschaft mit anderen, die diesen Weg gehen, kann mich stärken und sich positiv auf die Vertiefung meines Ganzwerdungsprozesses auswirken. In der am Ende des Textes aufgeführten Literaturliste sind einige Bücher zum Herzensgebet aufgeführt, die Erfahrungswissen, Hinweise und Wegschritte zum Thema vermitteln können.

Weitere Übungszugänge im Herzensgebet

Wenn ich in Tagungshäusern Kurse oder Seminare besuche, die das Herzensgebet zum Inhalt haben, begegnen mir die verschiedensten Gestaltungsformen, die ich hier nur kurz aufzeigen möchte.

Die Arbeit am Klang meines Herzenswortes und das Tönen verschiedener Laute verändern nicht nur die Klangräume in meinem Körper, auch die Sprachtiefe und der Sprachausdruck erfahren eine allmähliche Wandlung. Worte gewinnen eine neue Bedeutung und erschließen sich mir aus einer neuen Sichtweise. Auch meine Alltagssprache wird davon beeinflusst.

Der heilige Atem ist die mir geschenkte und meinen ganzen Leib durchströmende Kraftquelle. Die Einübung in die Wahrnehmung der inneren Atemräume leistet einen wichtigen Beitrag, um Energieblockaden zu lösen und den ganzen beatmeten Leib zu stärken und neu zu beleben.

In der Leibarbeit wirkt z.B. das sogenannte «Große Körpergebet» auf meinen physischen Körper und unterstützt heilsame Prozesse. Durch bestimmte Bewegungsabläufe oder Körperwahrnehmungsübungen können sich die feinstofflichen Energiezentren (Chakren) öffnen und die Lebensenergie gerät in Bewegung.

Im kreativen Gestalten meiner Erfahrungen und Einsichten nehme ich Umformungen und Veränderungen wahr. Im Nachhinein kann ich sie dann auch stärker für wahr halten. Das Gestaltete kann ich als Inspirationsquelle in meinen Lebensalltag hineinnehmen. Im Formen aus Ton, im Malen und Zeichnen, im Schreiben, im Dichten, im Tanz und in der Bewegung nehme ich mich und mein Ganzsein immer tiefer wahr.

Der Weg des Herzensgebetes zeigt sich mir als ein sehr sinnlicher und körperbetonter Weg, der meine kreativen Potentiale weckt und damit fördernd auf mein «Werden zu dem, was ich eigentlich bin» einwirkt. Das WORT wurde wirklich Fleisch!

Meine persönliche Herzensbitte

Wie in den Ausführungen deutlich geworden ist, besteht immer die Möglichkeit, am Anfang des Weges oder auch zwischendurch auf die alte, kraftvolle und mächtige Anrufung «Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner» zurückzukommen. Welches ist nun aber die mir entsprechende Formel, die mich im Innersten anspricht und somit einen Wandel in mir vollziehen kann? Welches sind Worte, die mich für die göttliche Wirklichkeit öffnen und die nicht durch negative Erfahrungen und Erinnerungen besetzt sind? Für viele Menschen ist schon das Wort «HERR» oder «erbarmen» eine unüberbrückbare Anfechtung. Hier können dann andere Worte gefunden werden. Das eigene Gebet des Herzens sollte die Eigenschaften verkörpern, die dem Wesen von Liebe, Ganzheit, Weisheit und Mitgefühl entsprechen. Die Herzensbitte sollte das wiederspiegeln, was mich im jetzigen Augenblick am meisten in meinem Innersten anspricht und berührt. Mein Herzensgebet sollte die tiefste Sehnsucht meines Herzens ausdrücken. Meinen Kindern (beide waren zu der Zeit acht Jahre alt) fiel spontan auf mein Nachfragen nach ihrem Herzensgebet, folgendes ein: «Mein Herz ist mein Weg» sagte mein Sohn,  «Mein Licht ist mein Weg», meine Tochter. Es gibt eine unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten für ein Gebet des Herzens. Selbst der Satz «Nimm dein Bett und geh» (die Aufforderung Jesu aus einer Heilungsgeschichte), kann für einen Menschen eine lebensgestaltende Bedeutung entfalten.

Einige Herzensgebete möchte ich als Anregung nennen. Wichtig ist immer wieder dabei, dass das Wort/der Satz eine authentische und mit meinem individuellen Sein authentisch verbundene Beziehung repräsentiert, z.B. Du zu Dir – Ich zu mir; Alles, was geschieht, geschieht aus Deinem Willen; Du in mir, ich in Dir; JA, ICH BIN DEIN; ABBA, umfange mich mit Deiner Güte; Dein Wille geschehe an mir; ICH BIN DA. Es kann auch nur ein Wort sein, welches für mich die Verkörperung des Ganzen ist. Ich entdecke dann im Laufe der Jahre die Weite und Tiefe dieses Wortes, das mich immer mehr in neue Schichten und Einsichten hineinführt. Dies kann das schon erwähnte Schalom sein oder auch ein anderes, z.B. Maranata; Adonai; Christos; Jeschua; Du; Amen; Abba; Dein; Leben; Licht; Geborgen in Dir; Frieden.

weitere Beispiele für Herzensgebete

Das Herzensgebet des großen Beters Nikolaus von der Flühe, eines christlichen Mystikers aus dem Mittelalter, ist in dieser Tradition ein vertrautes Gebet:

Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir, was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen dir.

Praktische Hinweise für den Alltag

Das formale Gebet

Das «freie» Sprechen des Herzensgebetes wird durch die «formelle» Übung ergänzt. Es herrschen hierbei keine strengen Regeln. Ich suche mir einen möglichst ruhigen Ort in meiner Wohnung, an der immer gleichen Stelle und nehme mir eine regelmäßige feste Zeit vor, die ich Gott schenke und in der ich das Gebet spreche.

Das freie Gebet

Ich weiderhole mein Gebet des Herzens im Laufe des Tages, während ich mit gewohnten Tätigkeiten beschäftigt bin. Immer, wenn ich mich daran erinnere. Ich kann mir auch kleine „Anker“ bauen. z.B. immer wenn ich eine Türklinge anfasse oder immer wenn ich in der Natur  z.B. ein Gänseblümchen (…vom Geheimnis des Gänseblümchens und seiner Beziehung zum Herzensgebet an anderer Stelle und ein anderes Mal mehr….)  erblicke. Ich kann es einmal oder mehrmals in den verschiedensten Situationen über den Tag verteilt sprechen, in den Momenten, in denen vom Geistigen her Freiräume da sind. Beim Abwaschen, beim Warten auf den Bus, beim Stau im Straßenverkehr, vor schwierigen Gesprächen, beim Einschlafen, beim Spazieren gehen, bei einfachen Arbeiten u.s.w.

Drei Stufen des Gebetes

Das mündlich gesprochene Gebet

Ich forme den Klang meines Herzenswortes mit den Lippen, in Verbindung mit dem Atem und den Stimmbändern. Diese ganz bewusst Gebetsweise ist hilfreich bei der Sammlung und in Situationen, wenn ich besonders unruhig bin oder wenn mein „Kopfkino“ auf Dauerbeschallung geschaltet hat und verrückt spielt.

Das verstandesmäßige Gebet

In meinem Inneren erklingt – mit dem Verstand gedacht und innerlich gesprochen – meine Herzensbitte. Tonlos. Dabei pflanzt der Verstand das Gebet langsam in mein Herz. Dieses Gebet wird auch als «Das Gebet des Geistes» genannt.

Das Gebet des Herzens

In mir erklingt unablässig mein heiliges Klang-Wort-Herzens-Gebet. Ohne etwas zu tun, bin ich durchströmt von meinem Gebet. Dieser Zustand wird auch als das «immerwährende Herzensgebet» oder das «Gebet des Geistes im Herzen» genannt. Es ist die erfahrbare Vereinigung des göttlichen Herzens mit meinem menschlichen Herzen. In den Briefen des Starez Theophan; einem Lehrer für das Herzensgebet, der am Ende des 19. Jahrhundert in Russland gewirkt hat, findet sich ein wiederkehrender Hinweis, den er ratsuchenden Gläubigen in seinen Briefen mit auf den Weg gab: „Versenken Sie Ihre Intelligenz ins Herz.“

Sechs Aspekte einer spirituellen Lebensgestaltung

Klärung der Motivation

Habe ich wirkich Interesse, mich dem Wesentlichen in mir und um mich zuzuwenden? Oder um mit Joseph Beuys zu sprechen: „Bin ich wirklich an Transformation, Wandlung und (R)evolution interessiert?“ Bevor Heilung geschieht fragt Jesu zuert: „Willst du wirklich heil werden? Bist du bereit, dich auf diesen Weg zu begeben? Wie klingt dein JA zu dieser geistlichen Übung? Im Gebet des Herzens senkt sich ganz allmählich der Morast meiner Seele und wird zum Nährboden für äußere und innere Wachstums- und Wandlungserfahrungen. Dabei geht es immer wieder neu um die Klärung meiner Motivation und Bejahung des Weges.

Regelmäßige Zeit

Eine kurze regelmäßige Zeit, an einem festen Ort in meiner Wohnung. Kleine, feine und beständige Schritte im kindlichen Vertrauen und einer dem Weg treubleibenden Geduld, lassen mich immer wieder neu ins Gebet zurück finden. Es heißt, dass morgens direkt nach dem Aufstehen eine gute Zeit ist. Auch ist überliefert, dass 20 Minuten eine gute Länge sind. Und dann heißt es, dass die Wirkung der Meditation meistens zeitversetzt, später und in Situationen erscheint, die ich so gar nicht im Blick hatte. Ich bin z.B. nach einem Konflikt mit meiner „Lieblingskollegin“ nicht mehr 1 Stunde arbeitsunfähig, sondern nur noch 40 Minuten. Dieses Wahrzunehmen, kann hilfreich sein und Mut geben, um der Regelmäßigkeit meiner stillen Gebetszeit Vertrauen zu schenken.

Wegbegleitung

In unserem Kulturkreis wird einer Lehrmeisterin oder einem Lehrmeister kulturell bedingt weniger Bedeutung beigemessen, als wie dieses z.B. in östlichen Traditionen selbstverständlich ist. Dabei kann ein/e Wegbegleiter/in, eine Kundige des Weges – ein »Bergführer» eine große Hilfe sein und mich auf meinem Weg seelsorgerisch und geistlich begleiten. Das kann auch eine Gruppe sein oder Menschen, die mich eine Zeit lang begleiten und auf meinem Weg unterstützen. Gut ist es, immer den „Geist der Unterscheidung“ anzurufen und den Kontakt zu prüfen. Ich sollte auf die Stimme meines eigenen Herzens hören, dann spüre ich meistens sehr schnell, ob in einer Wegbleitung der Geist von Freiheit, Selbstverantwortung, Wertschätzung und Respekt weht oder ob ich mich in Abhängigkeiten und Beziehungen wiederfinde, die mir einfach nicht gut tun.

Innere  und Äußere Haltung

Ich finde in eine Haltung, die der inneren Sammlung dienlich ist. Das kann auf dem Sitzbänkchen, dem Stuhl oder dem Sitzkissen sein. Ich erspüre meine Leibgestalt und verbinde mein Gebet mit dem Atem. Es gibt hierbei in den Schulen, in denen ich gelernt haben keine „richtige“ Technik, sondern die entscheidende Frage ist, ob ich meinen Leib als ein Ruhegefäß des Bewusstseins erfahre. Wie kann ich eine längere Zeit wirklich still sein. Zunächst ganz körperlich und im Außen. Was dient dieser in meiner Körperhaltung meiner inneren Sammlungsfähigkeit und treuen Ausrichtung meines Bewusstseins auf das Herzensgebetsmantra?

Geistliche Lesung

Regelmäßige Lesung in der Bibel und in Büchern, die aus dem Erfahrungswissen der Väter und Mütter des Weges überliefert wurden, andere geistliche oder für meine spirituelle Entwicklung förderliche Bücher/Texte aus den großen Weisheitstraditionen. Einige Anregungen finden Sie am Ende dieses Beitrages in eine Zusammenstellung von wichtigen Beiträgen zum Herzensgebet. Literaturverzeichnis

Liturgie

Hierbei lege ich mir eine klare und einfache, immer wiederkehrende Ablaufform fest: z.B. 3 x Klangschale, Verneigung, ein freies kurzes Gebet, Sitzen in der Stille mit meinem Herzensgebet (20 min), 1 x Klangschale, Verneigung, Vater unser,  Segen … und bleibe offen und kreativ für Veränderungen. Das Ritual der regelmäßigen Wiederholung hat sich als eine große Unterstützung bewährt und wird gerade Menschen, die mit dieser Meditation beginnen ans Herz gelegt. In Zeiten, wenn ich die Lust verliere und mir die Meditation vielleicht zu anstrengend, langweilig oder sinnlos erscheint, kann die eingeübte und in den Bewusstseinszellen „abgespeicherte“ Ablaufgestalt über das jeweilige Hindernis hinwegtragen.

Weiterführende Texte und Anregungen

“Berührt vom Klang der Liebe”

Flipchartpräsentation mit 32 farbigen Abbildungen eines einführenden Vortrages zum Herzensgebet, © Stephan Hachtmann, 2018

Hier geht es zur PDF-Datei

Eingangstore in die Ruhe des Herzen

Das Herzensgebet und die Nebenübungen von Rudolf Steiner (mit zahlreichen Abbildungen, Zusammenstellung © Stephan  Hachtmann, 2017, 32 Seiten) In diesem Text finden Sie eine Zusammenstellung verschiedener Übungsaspekte aus der Tradition des Herzensgebetes und seiner zeitgemäßen Verbindung zu den sogenannten Nebenübungen von Rudolf Steiner.

Hier geht es zur PDF Datei

Wo die Feile Gottes immer tiefer ansetzt

Die horizontale und vertikale Dynamik der Aufmerksamkeitsschulung im Herzensgebet

In dem Beitrag für die Integralen Perspektiven (veröffentlicht in der Ausgabe 34, Juni 2016, ab S.16 ff), wird der Schwerpunkt der Aufmerksamkeitsschulung im Herzensgebet in seiner horizontalen Dynamik und in seiner vertikalen Stufenentwicklung vorgestellt. Die dargestellte Systematik dieses wichtigen Übungsaspektes folgt den überlieferten Erfahrungen, die sich u.A. in den Weisheitstexten der Philokalie wiederspiegeln. Hervorzuheben sind hierbei im Besonderen die Ausführungen über die Schulung der nepsis (Aufmerksamkeit / Wachsamkeit) des Wüstenvaters Hesychios aus der Zeit um 450 n. Chr.. Zusammenfassend werden in diesem Beitrag des weiteren wesentliche Grundaspekte einer stufenweise sich entfaltenden Entwicklungsspirale der Aufmerksamkeitsschulung vorgestellt.

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Literaturverzeichnis (Auswahl)

Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit
fünfbändige Gesamtausgabe, Würzburg, Verlag der christliche Osten, 2004
Kleine Philokalie
Mathias Dietz, Zürich, Benziger Verlag, 1989
Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers
Hrsg. Von Emmanuel Jungclaussen, Freiburg-Basel-Wien, Herder, 1974
Hinführung zum Herzensgebet
Kallistos Ware/Emmanuel Jungclaussen ,
Freiburg-Basel-Wien, Herder Verlag, 1982
Berührt vom Klang der Liebe – Wege zum Herzensgebet
Stephan Hachtmann , Kreuz Verlag, 2012
Unterweisung im Herzensgebet
Abt Emmanuel Jungclaussen, St. Ottilien, EOS Verlag, 1999
In deinem Namen ist mein Leben
Alphonse und Rachel Goettmann, Freiburg-Basel-Wien, Herder Verlag, 1993
Auf den Bergen des Kaukasus
Ilarion Schimonach, Salzburg, Otto Müller Verlag, 1991
Das Jesusgebet
Hrsg. Von Emmanuel Jungclaussen, Regensburg, Verlag Friedrich Pustet, 1994
Das Tor zur Rückseite des Herzens
Franz Xaver Jans, Münsterschwarzach, Vier Türme Verlag, 1994
Tore zum Licht
Leta Vonzun/Franz-Xaver Jans, München, Kösel Verlag, 1996
Worte geboren aus Schweigen
Franz-Xaver Jans-Scheidegger, München, Kösel Verlag, 2002
Das Herzensgebet
Rüdiger Maschwitz, München, Kösel Verlag, 1999
Das Herzensgebet
Jean Lafrance, Münsterschwarzach, Vier Türme Verlag, 1988
Das immerwährende Herzensgebet
Alla Selawry, Bern, München, Wien, Otto Wilhelm Barth Verlag, 1986
Schule des Herzensgebetes
Die Weisheit des Starez Theophan, Salzburg, Otto Müller Verlag, 1989
Den Weg des Herzensgebetes gehen
Heinz Biegling, Petersberg, Via Nova Verlag, 1999
Die Übung des Herzensgebetes
Peter Köster, St. Ottilien, EOS Verlag, 2007
Starez Siluan, Mönch vom Berg Athos
Archimandrit Sophronius, Band I: Sein Leben und seine Lehre, Band II: Die Schriften, Düsseldorf, 1980/81
Kontemplative Exerzitien
Franz Jalics, Würzburg, Echter Verlag, 2008
Ruhegebet
Peter Dyckhoff, Don Bosco Verlag, 3. Auflage 2009
Lebensbuch des Starez Paisij
Hrsg. Klaus Kenneth, Paulus Verlag, Freiburg Schweiz 2010
Lebensbuch des Basil von Moldawien
Hrsg. Klaus Kenneth, Paulus Verlag, Freiburg Schweiz 2009
Lebensbuch des Nils von Sora
Hrsg. Klaus Kenneth, Paulus Verlag, Freiburg Schweiz 2009
Jesus-Gebet und neue Mystik
Sabine Bobert,  Buchwerft Verlag, Kiel 2010
Das Herzensgebet
Llewellyn Vaughan-Lee, Arbor Verlag 2013
Praxis des Herzensgebets
Andreas Ebert, Peter Musto, Claudius Verlag 2013
Hesychia – Das Geheimnis des Namens
Herausgeber  Andreas Ebert, Claudius Verlag 2012
Hesychia II – Wege des Herzensgebets
Herausgeber Andreas Ebert, Claudius Verlag 2014
Das Herzensgebet – die Fülle des Lebens entdecken
Rüdiger Maschwitz, Kösel Verlag 2015
Das Herzensgebet – In der Stille liegt die Kraft
Johannes Klausner, Crotana Verlag 2015